Interview mit Volodymyr Kudrytskyi

„Wir sind ständig gefordert“

Der CEO von Ukrenergo spricht im Interview mit Friederike Bauer über die Anstrengungen zur Aufrechterhaltung des Betriebs, die Bedeutung der internationalen Gebergemeinschaft und darüber, dass er gerne mehr private Investitionen anlocken möchte.

Stand: April 2024

Chef of Ukrenergo, Wolodimir Kudrytskyi

Wie sind Sie durch den Winter gekommen? Hatten Sie wie im Vorjahr unter Angriffen und Stromausfällen zu leiden?

Lassen Sie mich zunächst ein wenig zurückblicken: Zwischen Oktober 2022 und Februar 2023 wurden ukrainische Elektrizitätswerke von rund 1.500 Raketen und Drohnen auf die eine oder andere Weise getroffen. In der Folge waren fast die Hälfte des Übertragungsnetzes und bis zu 60 % der Stromerzeugungsanlagen beschädigt oder zerstört. Nach dieser schweren russischen Offensive haben wir ein Wunder vollbracht: Vor Beginn der nächsten Winterperiode hatten wir 95 % des Netzes repariert. Nur damit Sie sich eine Vorstellung von der Größenordnung machen können, von der wir hier sprechen. In normalen Jahren installieren wir 10 Spartransformatoren (Geräte, mit denen die Spannung bei der Stromübertragung von der Erzeugung zu den Verbrauchern geändert werden kann, Anm. d. Verf.), was mehr oder weniger den Zahlen unserer Wettbewerber in Europa entspricht. 2023 haben wir 72 solcher Transformatern innerhalb eines Jahres installiert. Diese großen Anlagen wiegen jeweils mehr als 200 Tonnen und müssen mit mehreren Lkw transportiert werden.

Das muss eine große Anstrengung von vielen Seiten gewesen sein ...

Es war eine enorme Anstrengung. Bei Ukrenergo haben wir sehr kompetente, professionelle und engagierte Mitarbeiter. Falls nötig arbeiten sie rund um die Uhr, sieben Tage die Woche. Insgesamt haben wir Reparaturarbeiten durchgeführt, die einem oder zwei Jahrzehnten Netzentwicklung und -bau zu Sowjetzeiten entsprechen. Obwohl das Netz starken russischen Angriffen ausgesetzt war, konnten wir es in weniger als zwölf Monaten fast vollständig wieder aufbauen. Ich selbst glaubte nicht, dass uns das gelingen würde, aber wir haben es geschafft. Es war eine organisatorische Herausforderung, ein immenser Koordinierungsaufwand, aber vor allem war es eine heldenhafte Leistung unserer Mitarbeiter vor Ort.

Bedeutet das, dass die Ukrainer im vergangenen Winter genügend Strom hatten?

Bis März, ja. Dann traf uns die nächste schwere russische Angriffswelle. Bis dahin wurden die Kunden normal mit Strom versorgt. Das hat sich im März und April leider geändert. Jetzt bitten wir die Kunden, so viel Strom zu sparen wie möglich, insbesondere am Abend. In den Abendstunden wird das Defizit so groß, dass es nicht einmal durch Importe aus der Europäischen Union gedeckt werden kann.

Aber in den Wintermonaten mussten die Menschen nicht frieren.

Genau. Die Heizung – die auch von der Stromversorgung abhängt – funktionierte. Das ukrainische Volk musste nicht frieren und auch seine Lebensgewohnheiten aufgrund von Strommangel nie über längere Zeiträume ändern. Noch wichtiger ist jedoch, dass die ukrainische Industrie während des Winters ohne Unterbrechung arbeiten konnte. Es kam nicht zu Stillständen aufgrund von Stromausfällen. Das trug 2023 zu einem Wirtschaftswachstum von rund 5 % bei. Im Frühjahr hat sich die Lage jedoch geändert.

Was ist jetzt anders?

Bei ihren Angriffen im März und April 2024 nahmen die Russen die Stromerzeugungsanlagen in den Fokus. Unsere Wärme- und Wasserkraftwerke wurden dutzende Male getroffen. Die Angriffe rissen nicht ab. Obwohl die Temperaturen jetzt höher sind und die Heizsaison vorbei ist, haben wir einen großen Teil unserer Anlagen verloren, die wir für eine ausgeglichene Stromversorgung benötigen.

Hat die neue Situation Auswirkungen auf den Alltag und die Wirtschaft?

Wenn unsere Wärme- und Wasserkrafterzeugung entweder zerstört oder schwer beschädigt ist, hat Ukrenergo nur begrenzte Möglichkeiten, das System auszugleichen, insbesondere während der Spitzenverbrauchszeiten. Unter diesen neuen Vorzeichen müssen wir die Menschen nun bitten, ihren Stromverbrauch morgens und abends freiwillig einzuschränken, um Stromausfälle zu vermeiden. Bisweilen kommt es auch zu Beschränkungen für industrielle Verbraucher. Und diese Situation ist aus wirtschaftlicher Sicht alles andere als wünschenswert.

Wie reagieren Sie auf diese Situation?

Bei Ukrenergo arbeiten wir Tag und Nacht daran, das Netz wieder aufzubauen. Und wir versuchen auch, den Schutz zu erhöhen, wo immer dies möglich ist. Das halte ich für absolut entscheidend. Die KfW unterstützt uns dabei nachdrücklich. Das macht einen gewaltigen Unterschied – jetzt und hoffentlich auch in Zukunft. Unser Ziel ist es, das ukrainische Stromsystem weniger gefährdet und widerstandsfähiger zu machen.

Konnten Sie neben der Reparatur des Stromnetzes auch dessen Ausbau vorantreiben?

Bauteil einer zerstörten Umspannstation
Bauteil einer zerstörten Umspannstation.

Ja, das konnten wir: 2022 haben wir eine 100 Kilometer lange Übertragungsleitung gebaut und letztes Jahr eine weitere, die uns mit Polen verbindet. In Deutschland beispielsweise kann der Bau einer Stromleitung 10 bis 15 Jahre dauern. In der Ukraine schaffen wir das in einem Jahr. Dies war sehr wichtig, nicht zuletzt, weil es eine gute Verbindung zur Europäischen Union sicherstellt, die es uns ermöglicht, 1,7 GW Strom von dort zu importieren – das entspricht fast zwei Kernkraftwerken. Nachdem die russischen Angriffe wieder zugenommen haben, brauchen wir diese Stromimporte, um das Netz so stabil wie möglich zu halten. Übrigens sind wir ein integraler Bestandteil des europäischen Stromsystems. Auch das haben wir dank internationaler Unterstützung erreicht.

Vor Beginn des breit angelegten russischen Kriegs gegen die Ukraine hatte Ukrenergo das Ziel, umweltfreundlicher und nachhaltiger zu werden. Verfolgen Sie dieses Ziel weiterhin?

In der Ukraine wurden allein im letzten Jahr Anlagen zur Erzeugung erneuerbarer Energie mit einer Leistung von rund 600 MW in Betrieb genommen. Noch wichtiger ist jedoch, dass wir als Netzbetreiber in den letzten zehn Monaten eine Rekordzahl an Netzanschlüssen für bessere Speichersysteme bereitgestellt haben. Jetzt, da wir Teil des europäischen Stromsystems sind, besteht unsere nächste große Mission neben den laufenden Reparaturarbeiten darin, unser Stromsystem zu transformieren und zu dekarbonisieren. Wir verfügen über Kernkraft, Wasserkraft und ein sehr gutes Wind- und Solarpotenzial. In zehn Jahren möchten wir nahezu klimaneutral sein. Daran werden wir genauso hart arbeiten wie an unserer Stromintegration in die EU.

Welche Investitionssummen benötigen Sie für all dies?

Wenn wir uns nur die neuen Projekte von Ukrenergo ansehen, sprechen wir von etwa 300 bis 400 Mio. Euro.

Die KfW ist im Auftrag der Bundesregierung und der EU seit vielen Jahren Partner der Ukraine und von Ukrenergo. Wie wichtig ist diese Partnerschaft für Sie?

Diese Unterstützung ist für uns lebenswichtig. Ohne die Finanzierung durch die KfW und andere internationale Geber hätten wir die letzten beiden Winter nicht überleben können. Die KfW hat uns in diesem umfassenden russischen Krieg gegen unser Land dankenswerterweise mit einer zusätzlichen Finanzierung unterstützt. Wichtig war jedoch auch, was vor der Invasion geschehen war, denn die in dieser Zeit durchgeführten Arbeiten waren entscheidend für die Aufrechterhaltung der Leitungen in den sehr wichtigen Regionen Charkiw, Dnipro und auch in Saporischschja. Um es auf den Punkt zu bringen: Die KfW spielt eine wesentliche Rolle bei der Aufrechterhaltung des ukrainischen Stromnetzes. Und ich hoffe, dass sie weiterhin eine wesentliche Rolle spielen wird, damit wir nicht nur diesen Krieg gewinnen, sondern auch das Stromsystem weiter modernisieren und transformieren können, so wie ich es beschrieben habe.

Wie nehmen die Menschen in der Ukraine die deutsche Unterstützung wahr?

Ich glaube, die Menschen hier sehen Deutschland als einen unserer besten Freunde in der Welt. Die allgemeine Auffassung ist, dass ein positives Ergebnis für die Ukraine ohne die aktive Unterstützung Deutschlands nicht vorstellbar ist. Deutschland ist nicht nur die größte Volkswirtschaft auf dem europäischen Kontinent, sondern auch der größte Verfechter der Demokratie in diesem Teil der Welt.

Wie sollte sich die Zusammenarbeit mit der KfW und Deutschland Ihrer Meinung nach in Zukunft entwickeln?

Wie ich bereits sagte, sind wir sehr dankbar für die Unterstützung, die wir bisher erhalten haben. Für die Zukunft würde ich mir jedoch wünschen, dass unserer Zusammenarbeit nicht mehr von Unterstützung, sondern von Förderung geprägt ist. Als Übertragungsnetzbetreiber und als Bankengruppe sollten wir gemeinsam versuchen, neue Möglichkeiten für Investoren im ukrainischen Energiesektor zu erschließen. Dazu gehören auch Investitionen aus Deutschland z. B. in Energiespeicher, Wind- oder Solarparks. Und ich meine, dass wir uns noch vor dem Ende des Krieges dafür einsetzen sollten, dass die Investitionen trotz der derzeitigen Bedingungen fließen. Unsere bisherige Zusammenarbeit mit der KfW schafft eine perfekte Grundlage dafür sowie auch für zukünftige Erfolge. Ich freue mich darauf, diese neue Phase mit der KfW zu beginnen.

Wie ist Ihre persönliche Stimmung? Wie optimistisch sind Sie, was den Ausgang dieses Kampfes gegen die russische Aggression angeht?

Ich habe nie aufgehört, an uns zu glauben. Das kann Zeit, Mühe und auch Opfer erfordern. Wir wissen, dass es nicht einfach sein wird. Aber wenn man sich die ganze ukrainische Geschichte ansieht, hatte es die Ukraine im wahrsten Sinne des Wortes nie leicht, etwas zu erreichen. Stattdessen werden wir uns unseren Weg zu Freiheit, Unabhängigkeit und Demokratie erkämpfen müssen.