Interview mit Prof. Dr. Stephan Klingebiel
Im Interview mit Friederike Bauer spricht Prof. Dr. Stephan Klingebiel von IDOS über den Kampf gegen Armut, fragile Staaten, geopolitische Interessen und warum die SDGs weiterhin einen guten Rahmen bilden.
Veröffentlicht im Oktober 2024
Wir wissen, dass ein großer Teil der armen Bevölkerung in fragilen Ländern lebt. Armut ist eine Folge davon. Wenn jemand keinen verlässlichen Rechtsrahmen hat, wenn es gewaltsame Auseinandersetzungen gibt, vielleicht auch in meinem Dorf, wenn Landwirtschaft nicht möglich ist, hat das Auswirkungen auf das Einkommen von Menschen. Leider steigt der Anteil armer Menschen in fragilen Staaten derzeit weiter – bis 2030 voraussichtlich auf 60 % der extrem Armen.
Richtig, in Ländern Ostasiens und Südasiens, die traditionell viele Arme zu verzeichnen hatten, sehen wir seit vielen Jahren positive Trends. Das gilt besonders für China und Indien, aber auch für Länder wie Bangladesch oder Vietnam. Armut wurde und wird dort immer weiter zurückgedrängt. China soll in den nächsten Jahren auch offiziell den Status als Entwicklungsland ablegen. Besonders in den Jahren zwischen 1990 und 2015 wurden in vielen Weltgegenden große Fortschritte gemacht – die Zahl der extrem Armen sank von knapp der Hälfte der Bevölkerung in Entwicklungsländern auf etwa 14 %.
In Subsahara-Afrika. Auch dort gab es Fortschritte, aber sie waren deutlich langsamer. Natürlich muss man sich die Länder jeweils im Einzelnen anschauen. Dort, wo Konflikte herrschen, wie in Somalia oder der Demokratischen Republik Kongo, ist die Situation ernster als zum Beispiel in Ruanda oder Mauritius. Aber insgesamt ist Afrika der ärmste Kontinent.
In den OECD-Ländern sind die Auswirkungen wirtschaftlich überwunden. Von den ärmeren Entwicklungsländern hat ungefähr noch die Hälfte mit den Folgen zu kämpfen. Bei ihnen sehen wir eine Delle. Die Gründe dafür sind höhere Preise für Nahrungsmittel, Energie und Düngemittel. Burundi zum Beispiel wurde schwer getroffen und hat das Vor-Pandemie-Niveau noch nicht wieder erreicht.
Armut hat viele Gesichter. Menschen können arm sein, weil sie keine Lohnarbeit haben. Unterbeschäftigung und Arbeitslosigkeit sehen wir als typisches Phänomen in vielen Slums dieser Welt. Sie können aber auch arm sein, obwohl sie mit ihrer Landwirtschaft völlig ausgelastet sind. Manchmal reichen bestimmte traditionelle Formen der Landwirtschaft nicht aus. Es kann aber auch schon eine Folge des Klimawandels sein, wegen extremer Trockenheit oder wiederholter Zyklone. Auch Gender spielt hier eine Rolle: eine Frau auf dem Land, deren Mann in einem Konflikt umgekommen ist, und die ihre vier Kinder nun allein durchbringen muss, hat eine hohe Armuts-Wahrscheinlichkeit.
Auch durch Konflikte Vertriebene sind sehr häufig arm. Dann spielen Landnutzungskonflikte und so etwas wie „Kriegssteuern“ eine Rolle, die während gewaltsamer Konflikte gerne in Dörfern eingetrieben werden. Sie können Menschen ebenfalls in Armut werfen – oder darin verharren lassen.
Armut springt in urbanen Zentren stärker ins Auge, aber tatsächlich ist sie auf dem Land meist härter und extremer. In Städten finden sich oft noch irgendwo Gelegenheitsjobs, die es auf dem Land eher weniger gibt. Deswegen können wir fast überall auf der Welt starke Migrationsbewegungen vom Land in die Städte beobachten. Ländliche Armut ist elementarer und hoffnungsloser.
Armut ist tatsächlich viel umfassender. Die extreme Armut wird international am verfügbaren Einkommen gemessen, weil dann die einfachsten Dinge für das Leben fehlen: Nahrung, Wohnen, Wasser etc. Aber es gibt auch einen multiplen Armutsbegriff, der viel mehr einbezieht und Armut relativ zur generellen Situation im Land betrachtet. Armut hat auch viel mit Ungleichheit zu tun, mit mangelnden Möglichkeiten der Teilhabe. All das verhindert ebenfalls Entwicklung. Es ist also mehr als das schiere Einkommen, obwohl das zum wichtigsten Maß geworden ist.
Bildung, Gesundheit plus elementarste Formen der sozialen Sicherung sind aus meiner Sicht die zentralen Investitionen, die wichtig sind, um vor Armut zu schützen bzw. die schlimmsten Formen von Armut zu vermindern. Bildung ist und bleibt der Schlüssel, um die eigene Produktivität zu verbessern. Das gilt gerade in Zeiten des Internets, trifft aber auch für den Landwirt zu, der seinen Acker dadurch besser bewirtschaften kann oder einen höher entlohnten Job findet. Selbst einfachste Berufe lassen sich mit einem gewissen Bildungsniveau besser erfüllen. Entscheidend ist daneben die Gesundheit: Wenn jemand erst einmal mit Mangel und Fehlernährung ins Leben gestartet ist, bleiben die körperlichen und auch geistigen Möglichkeiten meist begrenzt.
Die halte ich für ebenfalls zentral, weil soziale Sicherungssysteme bestimmte Risiken abfangen, vorübergehend oder dauerhaft, etwa bei Missernten oder Krankheiten. Die können Menschen sonst aus der Bahn und in Armut werfen.
Vom Grundsatz her ist es möglich, extreme Armut bis 2030 zu beseitigen, so wie es SDG 1 vorsieht. Das ist machbar. Die Frage ist, kann man Länder, die willens sind, dazu in die Lage versetzen? Und sind alle Länder willens, das zu tun?
Viele Länder setzen leider andere Prioritäten – und profitieren vielleicht sogar von Instabilität. Nehmen Sie als Beispiel die Sahel-Länder Niger, Mali, Burkina Faso. Dort spielt der Kampf gegen Armut als Hauptziel erstmal keine Rolle. Sondern die Instabilität dient als Begründung, um demokratisch gewählte Regierungen vertreiben zu können. Instabilität als Teil eines Kalküls. Anderes Beispiel: Wer Zugang zu Land oder Ressourcen haben möchte, wird die Lebensbedingungen der ansässigen Bevölkerung kaum verbessern wollen, sondern sie eher verschlechtern, um die Menschen zu vertreiben. Das heißt: Davon auszugehen, dass überall auf der Welt Entscheider sitzen, die nichts lieber möchten, als SDG 1 zu erreichen, wäre ziemlich naiv.
Möglich wäre es, aber nicht realistisch. Nach heutigem Stand wird es bis 2030 nur etwa einem Drittel der Länder gelingen, die absolute Armut zu beseitigen.
Ich halte die SDGs weiterhin für ein gutes Koordinatensystem, weil sie alle großen Herausforderungen unserer Zeit abdecken. Sie könnten sicherlich weiterentwickelt werden, aber sie wegen neuer geopolitischer Realitäten oder weil wir sie vermutlich nicht erreichen werden für obsolet zu erklären, hielte ich für falsch. Sie geben Orientierung für (Regierungs-)Handeln, worauf sich die gesamte Staatengemeinschaft geeinigt hat. Allein das ist schon ein Wert in einer zunehmend geopolitisch geprägten Welt.
Aus meiner Sicht gibt es drei Möglichkeiten. Erstens, sie werden geprüft, überarbeitet und den heutigen Verhältnissen auf der Welt angepasst, ähnlich wie beim Übergang von den Millenniumsentwicklungszielen zu den SDGs. Dann könnte man die multiplen Krisen und Herausforderungen einbeziehen und neue, globale und ehrgeizige Ziele formulieren. Zweitens, die Staatengemeinschaft ist so entzweit, dass sie sich auf gar nichts einigen kann. Die SDGs laufen aus und werden nicht ersetzt. Das wäre bedauerlich. Und drittens könnte man die bisherigen Ziele einfach um 10 oder 15 Jahre verlängern. Derzeit halte ich Option drei für am wahrscheinlichsten.
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