„Corona verstärkt die Ungleichheit“

Interview mit der ehemaligen KfW-Sektorökonomin Dr. Maria Ziegler über wachsende Ungerechtigkeit in der Welt und mangelnde Chancen auf ein selbstbestimmtes Leben.

Portraitfoto von Maria Ziegler
Dr. Maria Ziegler, ehemalige Sektorökonomin in der KfW Entwicklungsbank
Stimmt der Eindruck, dass die Schere zwischen Arm und Reich auf der Welt zunimmt?

So pauschal stimmt das nicht, weil sich die Lage weltweit betrachtet sehr unterschiedlich darstellt. Und es hängt davon ab, welchen Indikator man betrachtet: Einkommen, Vermögen, Zugang zu Grunddienstleistungen etc. Aber richtig ist, dass die Ungleichheit insgesamt sehr hoch ist. Und in den Entwicklungsländern hat beispielsweise die Einkommensungleichheit, trotz großer Unterschiede von Land zu Land, seit 1990 im Durchschnitt tatsächlich zugenommen.

Ist die Ungleichheit zwischen oder in Staaten größer?

Vor Corona haben die Unterschiede zwischen den Ländern abgenommen; aber das dürfte sich jetzt wieder ändern. In den Ländern selbst gibt es, wie ich schon sagte, eine große Heterogenität.

Was wird sich Ihrer Ansicht nach durch Corona ändern?

Die Pandemie verstärkt die Ungleichheit, und zwar auf verschiedenen Ebenen. Die schwächsten und verletzlichsten Menschen einer Gesellschaft leiden am meisten; das gilt bei uns genauso wie in den Entwicklungsländern: Die Tagelöhner, die jetzt keine Arbeit mehr haben; die Menschen, die im Niedriglohnsektor zum Beispiel im Tourismus arbeiten, Frauen, Menschen mit Behinderungen und viele andere – sie alle trifft der Lockdown, den nahezu alle Länder mindestens phasenweise im vergangenen Jahr gesehen haben, deutlich härter als andere Bevölkerungsschichten. Gleichzeitig vergrößert sich aber auch die Kluft zwischen den Staaten. Reiche Länder haben ganz andere Möglichkeiten, die Krise abzumildern, Unterstützungsprogramme für die Wirtschaft aufzulegen und soziale Maßnahmen für besonders schwer Betroffene zu ergreifen.

Das heißt, es drohen Fortschritte wieder verloren zu gehen, die in den vergangenen zwanzig Jahren durch die Millenniums-Entwicklungsziele und seit 2015 durch die Nachhaltigen Entwicklungsziele gemacht wurden?

Die Gefahr besteht. Nachdem die Zahl der in Armut lebenden Menschen in den letzten zwei Jahrzehnten gefallen ist, wenn auch zuletzt etwas langsamer, sagt die Weltbank durch Corona nun einen Anstieg von zusätzlich gut 100 Millionen Menschen voraus. Das wäre in der Tat ein Rückschritt.

Bedeutet denn ein Rückgang der Armut automatisch auch ein geringeres Maß an Ungleichheit?

Nicht unbedingt. So erfreulich es ist, wenn die Armut insgesamt sinkt, damit ist noch lange nicht gesagt, dass die Menschen in einer Gesellschaft die gleichen Chancen auf ein erfülltes, selbstbestimmtes und materiell einigermaßen abgesichertes Leben haben. Die Unterschiede können trotzdem immer noch hoch sein und sogar weiter wachsen.

Kinder tragen Holz an einer befahrenen Straße, im Hintergrund fährt ein moderner Bus
Ob Kinder die Chance auf ein selbstbestimmtes Leben erhalten, hängt häufig davon ab, wo sie geboren wurden.
Wirtschaftswachstum gilt als wichtige Stellschraube, um mehr Wohlstand in einer Gesellschaft zu schaffen. Wie wichtig ist sie, um Ungleichheit zu reduzieren?

Erfolge beim Wirtschaftswachstum sind wichtig, keine Frage, aber sie kommen nicht automatisch allen gleichermaßen zugute. Indien ist ein gutes Beispiel dafür: Hohes Wirtschaftswachstum ging hier mit einer starken Abnahme der Armut, aber zugleich auch einer starken Zunahme der Ungleichheit einher. Wachstum führt also nicht per se zu einer Angleichung von Lebensverhältnissen. Sondern dazu braucht es weitere wirtschaftliche oder politische Maßnahmen.

Wie müssen die aussehen?

Dafür gibt es kein Patentrezept; die Ansätze müssen je nach Lage von Land zu Land anders beschaffen sein. Aber klar ist, dass Wirtschaftswachstum allein nicht genügt und von weiteren Programmen flankiert werden muss. In agrarisch geprägten Ländern spielen Landreformen oft eine wichtige Rolle, um mehr Menschen Zugang zu eigenem Boden für ihre Existenzsicherung zu verschaffen. Wenn die Unterschiede zwischen Stadt und Land sehr groß sind, bieten sich Programme zur Förderung des ländlichen Raumes an, etwa durch neue Infrastruktur, damit z. B. Kleinbauern und Kleinbäuerinnen Märkte besser erreichen können. Entscheidend ist auch die Bildungspolitik, die Kinder aus ärmeren Familien gezielt einbindet. Wir wissen längst, dass Bildung ein wesentlicher Faktor für soziale Mobilität ist, Menschen in andere (Einkommens-)Schichten bewegen kann. Soziale Sicherungssysteme sind ebenfalls entscheidend, um die Grundrisiken des Lebens abzusichern. Es gibt also eine Reihe von Faktoren, die jenseits der rein ökonomischen Entwicklung dazu beitragen können, Ungleichheiten zu vermindern – und die dann übrigens auch das Wirtschaftswachstum zusätzlich ankurbeln können.

In vielen Ländern sind soziale Sicherungssysteme aber immer noch ein frommer Wunsch...

Das ist richtig. Etwa ein Drittel der Menschheit ist durch Sozialsysteme gut geschützt. Fast die Hälfte der Menschen hat zumindest eine rudimentäre Absicherung, ist aber nicht insgesamt gegen die Wechselfälle des Lebens abgesichert. Der Rest bleibt sich und seinem Schicksal allein überlassen. Das genügt nicht, um die Ungleichheit zu verringern, wie es Nachhaltigkeitsziel Nummer 10 vorsieht.

Ungleichheit ist ein dehnbarer Begriff. Was genau fällt eigentlich alles darunter?

Dazu gibt es verschiedene Dimensionen. Manche denken, es ginge nur um Einkommensunterschiede. Aber das stimmt nicht. Denn Unterschiede beim Einkommen haben meist strukturelle Ursachen von Ungleichheit, die auf Ausgrenzung und Diskriminierung hinweisen und sich auch in anderen Dimensionen von Ungleichheit, wie Bildung, Gesundheit und wirtschaftliche, gesellschaftliche sowie politische Teilhabe zeigen. Hierbei spielen vor allem Unterschiede zwischen Religionen, Regionen, Stadt und Land oder Bevölkerungsgruppen, etwa zwischen Frauen und Männern, eine Rolle: Frauen sind in ihrem Lebenszyklus ganz anderen Risiken ausgesetzt, zum Beispiel durch Schwangerschaft und Geburt, und sind gerade hier oft nur ungenügend abgesichert. Ungleichheit bedeutet nicht Gleichmacherei, denn die Bedürfnisse sind ja auch unterschiedlich. Der Gerechtigkeitsphilosoph und Nobelpreisträger Amartya Sen spricht von „Verwirklichungschancen“. Nicht jeder möchte das gleiche, aber er möchte die Chance bekommen, das zu tun, was für ihn oder sie gut ist.

Im Moment hängen unsere Verwirklichungschancen sehr stark von den Corona-Impfstoffen ab. Aber genau die sind knapp und deshalb nicht überall gleichermaßen verfügbar. Bekommen wir hier noch eine weitere Dimension von Ungleichheit?

Ich fürchte ja. Wir sehen bereits, dass die wohlhabenden Nationen in Europa und Nordamerika sich die Mehrheit der Impfdosen gesichert haben und Entwicklungsländer sich hintenanstellen müssen, obwohl sie den Großteil der Weltbevölkerung beheimaten. Das halte ich nicht nur für ungerecht, sondern auch für unklug.

Wieso ist das unklug? Ist es nicht fast ein natürlicher Reflex, erst einmal die eigene Bevölkerung zu schützen?

Möglich, aber hilfreich ist das nicht. Denn solange nicht die Mehrheit der Weltbevölkerung geimpft ist, kann das Virus weiter zirkulieren. Damit steigt die Gefahr, dass es zu uns zurückkommt und sich Mutanten entwickeln, gegen die die Impfstoffe eventuell nicht mehr wirksam sind. Wir müssten also zusehen, dass möglichst viele Menschen weltweit möglichst schnell geimpft werden.

Wie könnte das bewerkstelligt werden?

Ich würde dazu raten, dass Pharmaunternehmen ihr Know-how in Sachen Impfstoffe auch Entwicklungsländern zur Verfügung stellen. Am besten sollte das über die Welthandelsorganisation geschehen. Auf diese Weise könnten mehr Länder Impfstoffe produzieren und damit auch Entwicklungsländer versorgen. Gleichzeitig bräuchte es dann massive Impfkampagnen auch in ärmeren Ländern, wahrscheinlich unterstützt durch die internationale Gemeinschaft.

Die Personen werden per Fingerabdruck auf dem Lesegerät als Inhaber der e-zwich-Geldkarte identifiziert.
Der Zugang zu Finanzdienstleistungen ermöglicht ökonomische Aktivitäten und wirtschaftliche Teilhalbe.
Welchen Beitrag leistet die KfW, um Ungleichheit in welcher Form auch immer, zurückzudrängen?

Eine ganze Menge. Wir werden in der Regel dort aktiv, wo die größten Defizite bestehen. Wir versuchen mit unseren Programmen aber auch Märkte zu entwickeln, Chancen zu schaffen und damit wirtschaftliches Potenzial zu entfalten. Viele unserer Vorhaben richten sich direkt an benachteiligte Gruppen, etwa im Gesundheits- oder Bildungssektor, bei der Anpassung an den Klimawandel oder im Hinblick auf finanzielle Inklusion. Ungleichheit zu reduzieren, ist uns ein großes Anliegen. Wir streben bessere Lebensverhältnisse für alle an, besonders für die Armen.

Macht die KfW nicht ihre größten Zusagen aber bei Infrastruktur wie Kraftwerken und Stromleitungen?

Auch hier leisten wir einen Beitrag, wenn auch vielleicht etwas indirekter. Denn erstens ist eine stabile Energieversorgung ein wesentlicher wirtschaftlicher Faktor. Und zweitens bringen wir Energie auch in Gebiete, die vorher keinen Zugang dazu hatten. Das heißt, wir erzielen auch damit Effekte wider die Ungleichheit.

Rund um den Globus gibt es inzwischen soziale Bewegungen wie zum Beispiel „Black Lives Matter“. Ist das ein Hinweis darauf, dass wir im Begriff sind, das Problem zu bearbeiten und zu lösen?

Meiner Ansicht nach spielen bei diesen Bewegungen soziale Medien eine wesentliche Rolle, weil sie die Aufmerksamkeit für Ungerechtigkeiten erhöhen. Sicherlich sind sie auch ein Hinweis darauf, dass sich etwas bewegt, nicht zuletzt in den Köpfen. Aber ich sehe auch starke Gegentendenzen, einen Roll-back bei Gender-Fragen zum Beispiel, verbreiteten Rassismus, antidemokratische Bewegungen. Gegen Ungleichheiten muss man immer weiterkämpfen, jeder und jede an seiner und ihrer Stelle. Das Erreichte ist nicht selbstverständlich. Und das noch nicht Erreichte wird sich nicht von allein einstellen.

Das Interview führte Friederike Bauer. Veröffentlicht am 20. Februar 2021.