Interview mit Kirsten Schuijt

„Zu viel Gerede, zu wenig Taten“

Die Menschen werden sich des Verlusts der biologischen Vielfalt und der damit verbundenen Gefahren immer stärker bewusst. Doch es muss noch viel mehr getan werden. Welche Rolle der Globale Biodiversitätsrahmen (GBF) dabei genau spielt, erklärt Kirsten Schuijt, Generaldirektorin des WWF International, in einem Interview mit Friederike Bauer.

Kirsten Schuijt im Porträt
Die Niederländerin Kirsten Schuijt ist seit Anfang 2023 Generaldirektorin des WWF International.

Die biologische Vielfalt nimmt in atemberaubendem Tempo ab. Was beunruhigt Sie in diesem Zusammenhang am meisten?

Am meisten Sorgen bereitet mir der allgemeine Trend: Die biologische Vielfalt nimmt weltweit ab. Seit 1970 sind die Bestände wildlebender Tier- und Pflanzenarten im Durchschnitt um fast 70 % zurückgegangen, im Süßwasser sind es sogar 80 %. Diese Zahlen sind alarmierend und stellen eine echte Gefahr für das Überleben der Menschheit dar. Wir müssen die Biodiversitätskrise sehr, sehr ernst nehmen. Natürlich gibt es auch positive Entwicklungen, aber insgesamt geht der Trend in die falsche Richtung.

Von welchen Ausnahmen sprechen Sie?

Die Tigerpopulation ist ein sehr gutes Beispiel. Der Rückgang des Tigerbestands hat uns vor enorme Herausforderungen gestellt. Doch in den vergangenen zehn Jahren haben wir es zumindest an manchen Orten geschafft, diesen Trend umzukehren. Ein weiteres Beispiel ist der Große Panda. Als wir vor 62 Jahren den WWF gründeten, stand er kurz vor dem Aussterben. Jetzt befindet sich der Große Panda nicht mehr auf der Liste der bedrohten Arten. Gleiches gilt für das südliche Breitmaulnashorn und in gewissem Maß für Gorillas. Einigen der sogenannten Flaggschiff-Arten geht es besser. Aber insgesamt ist die Entwicklung, wie gesagt, sehr besorgniserregend.

Früher war die biologische Vielfalt ein Thema für begeisterte Naturliebhaber. Hat sich das inzwischen geändert?

Tatsächlich wussten viele Menschen nicht einmal, was biologische Vielfalt bedeutet. Es war so ein hochtrabender Begriff. Das hat sich geändert, obwohl die Biodiversität immer noch nicht so weit oben auf der Agenda steht, wie sie sollte. In den Köpfen der Menschen, aber auch in der Politik und bei den Unternehmen rangiert sie definitiv hinter dem Klimawandel. Aber es wird inzwischen akzeptiert, dass die Natur als Thema und politische Frage wichtig ist und Aufmerksamkeit braucht. Wenn ich mit Staats- und Regierungschefs, CEOs oder auch mit jungen Menschen spreche, muss ich nicht mehr bei Null anfangen. Was jedoch noch fehlt, sind Taten, konsequente und engagierte Taten. Es wird zu viel geredet und zu wenig umgesetzt. Außerdem müssen wir Klima und biologische Vielfalt miteinander verknüpfen, denn sie sind weitgehend Teil derselben Krise. Der Schwund an biologischer Vielfalt führt zu mehr CO2-Emissionen, während ihr Erhalt uns eine viel bessere Anpassung an den Klimawandel ermöglichen kann.

Seit Dezember 2022 gibt es ein internationales Übereinkommen, den Globalen Biodiversitätsrahmen. Er wurde als historischer Durchbruch gefeiert. Sind Sie auch dieser Ansicht?

Absolut. Es ist ein historisches Übereinkommen. Dass 196 Länder ein globales Rahmenwerk zur biologischen Vielfalt mit 23 recht konkreten Zielen und Vorgaben unterzeichnet haben, war ein besonderer Moment im Naturschutz. Allerdings gab es in der internationalen Politik schon viele Übereinkommen – beispielsweise das Pariser Klimaschutzabkommen oder die Ziele für nachhaltige Entwicklung. Wir hatten die Aichie-Ziele für biologische Vielfalt, die 2010 verabschiedet wurden und in denen sich die Länder verpflichteten, den Verlust von Lebensräumen bis 2020 zu verhindern oder zu verringern. Dies ist nicht geschehen. Beim Klima sind wir noch weit vom 1,5-Grad-Ziel entfernt. Für mich war das Übereinkommen von Montreal also sehr wichtig, aber es war erst der Anfang und nicht das Ende eines Prozesses. Und das ist die große Herausforderung, der wir uns stellen müssen: Wir müssen Ziele ehrgeiziger umsetzen.

Die nächste Konferenz findet im Herbst in Kolumbien statt. Was muss geschehen, damit sie ein Erfolg wird?

Die Konferenz wird von entscheidender Bedeutung sein. Es wird interessant sein zu erfahren, was die Länder seit Montreal unternommen haben. Der Globale Rahmen für Biodiversität ist genau das – ein Rahmen. Er muss auf Strategien und Aktionspläne auf nationaler und lokaler Ebene heruntergebrochen werden. Ein Teil der Konferenz wird eine Bestandsaufnahme sein, um herauszufinden, wie ernst es die Länder jetzt wirklich meinen. Damit das Treffen ein Erfolg wird, müssen meiner Meinung nach zwei Dinge geschehen: Erstens bedarf es starker nationaler Strategien und Aktionspläne für die biologische Vielfalt (NBSAP) und zweitens einer ausreichenden Finanzierung.

Eines der 23 Ziele von Montreal ist es, 30 % der Land- und Meeresfläche unter Schutz zu stellen. Dazu muss sich die Fläche an Land etwa verdoppeln und im Meer fast vervierfachen. Glauben Sie, dass es möglich ist, dieses Ziel bis 2030 zu erreichen?

Ja, das glaube ich. Und es ist absolut notwendig, dass dieses Ziel erreicht wird. Wir müssen viel mehr Flächen unter Schutz stellen. Und obwohl dies als globales Ziel formuliert wurde, ist für mich auch ganz klar, dass jedes Land diese 30 % in seinem eigenen Staatsgebiet erreichen sollte. Das wird von Land zu Land sehr unterschiedlich aussehen, weil es davon abhängt, wie die jeweilige Natur aussieht, wie die Wirtschaft strukturiert ist usw. Jedes Land sollte diese 30 % jedoch individuell erreichen. Aber natürlich werden dies nicht alles Schutzgebiete sein, die hinter Mauern liegen und von Menschen unberührt sind. Viele Chancen liegen in den sogenannten „weiteren effektiven, flächenbezogenen Schutzmaßnahmen“, kurz OECMs (Other Effective Area-based Conservation Measures). Das können Pufferzonen, Korridore zwischen Schutzgebieten, städtische Grünflächen oder Flussufer sein. Hiermit lässt sich viel erreichen.

Aber sind nicht gerade die OECMs dazu angetan, von den Ländern missbraucht zu werden, um die 30 % zu erreichen?

Das ist eine Schlüsselfrage in der gesamten Debatte. Deshalb brauchen wir klare Definitionen darüber, was dazugehört und was nicht. Im Rahmen der so genannten „sciene based target initiative for nature“, also der wissenschaftsbasierten Zielinitiative für die Natur, werden derzeit von Experten große Anstrengungen unternommen, um Indikatoren und Maßnahmen zu erarbeiten. Ich halte es für besonders wichtig, dass sich die Mitgliedsstaaten in Kolumbien auf einige der in diesem Zusammenhang relevanten Definitionen einigen, damit wir alle auf der gleichen Grundlage arbeiten und der Fortschritt – oder sein Ausbleiben – genau überwacht werden kann.

Sie haben vorhin von den Menschen gesprochen. Es hat einen Wandel gegeben – weg von festungsähnlichen Schutzgebieten hin zu einem menschennahen Naturschutz ...

Dieses Thema liegt mir besonders am Herzen, denn letztlich sind es die lokalen Gemeinschaften, die Menschen, die in oder in der Nähe von Schutzgebieten leben, die Wälder, Feuchtgebiete und Ökosysteme erhalten müssen. Bei all unseren Bemühungen müssen wir sie mit einbeziehen. Die alte Vorstellung, dass Natur bewacht und eingezäunt werden muss, ist nicht mehr haltbar. Wir als WWF verfolgen einen menschenrechtsbasierten Ansatz, der darauf abzielt, den Naturschutz mit den Bedürfnissen der Menschen, einschließlich indigener Gemeinschaften, in Einklang zu bringen.

Kirsten Schuijt pflanzt einen Baum

Der Globale Rahmen enthält auch ein ehrgeiziges Finanzierungsziel: Bis 2025 müssen 20 Mrd. US-Dollar und bis 2030 sogar 30 Mrd. US-Dollar für die biologische Vielfalt aufgebracht werden. Allerdings haben viele Länder derzeit mit knappen Haushaltsmitteln zu kämpfen. Wie passt das zusammen?

Tatsächlich klafft noch eine enorme Finanzierungslücke, die in Kolumbien angegangen werden muss. Aber es geht nicht nur darum, die Regierungen zu bitten, Geld auf den Tisch zu legen. Das ist sicherlich wichtig, aber es geht auch um schädliche Subventionen, die immer noch in großem Umfang fließen und abgebaut werden müssen. Außerdem geht es darum, Investitionen umzulenken, die sich derzeit negativ auf die biologische Vielfalt auswirken. Beispielsweise gibt es viele Pensionskassen, die ihr Geld in nicht nachhaltige Projekte investieren. Es würde viel bewirken, wenn sie ihre Politik ändern und naturpositiv investieren würden.

Ist die Privatwirtschaft wirklich daran interessiert, diesen Wandel zu vollziehen?

Es gibt definitiv ein wachsendes Interesse des privaten Sektors, sich zu engagieren. Nicht überall, aber das Bewusstsein wächst, weil die Unternehmen erkennen, dass die biologische Vielfalt wichtig für ihr Geschäft ist. Ob Nahrungsmittelsektor, Landwirtschaft oder chemische Industrie: Sie alle sind auf die Natur angewiesen. Nach Angaben des Weltwirtschaftsforums hängt mehr als die Hälfte des weltweiten Bruttosozialprodukts von der Natur ab.

Wie kann eine Bank wie die KfW mit einem klaren Fokus auf Nachhaltigkeit die Umsetzung der Montrealer Ziele unterstützen?

Neben der Förderung von Biodiversitätsprojekten, wie sie es bereits tut, könnte die Bank eine integrierte Strategie für biologische Vielfalt entwickeln und sicherstellen, dass die von ihr finanzierten Projekte, Anlagen, Partner und Programme dieser Strategie entsprechen. Zweitens könnte sie nach Möglichkeiten suchen, mehr private Investitionen in die Natur zu generieren, indem sie neue und innovative gemischte Finanzierungsmodelle entwickelt. Beides wäre ein wichtiger Beitrag zu dem Ziel, eine Trendumkehr zugunsten der biologischen Vielfalt zu erreichen.

Welche Rolle spielt die EU bei der internationalen Debatte über die biologische Vielfalt?

Die EU hat mit ihrem Grünen Deal maßgeblich zur Verabschiedung des Globalen Biodiversitätsrahmens beigetragen und ist im Hinblick auf den Schutz der biologischen Vielfalt bislang führend. Allerdings stehen in den EU-Ländern viele Wahlen an, und es könnte zu Machtverschiebungen kommen. Ich mache mir Sorgen darüber, was als nächstes passiert. Werden diese Errungenschaften dann wieder verwässert? Wie können wir den Schwung beibehalten? Das sind die Fragen, die mich beschäftigen.

Gibt es wichtige Aspekte, die noch nicht genügend Beachtung finden?

Verbrauchs- und Produktionsmuster bei Nahrungsmitteln, einschließlich der Verschwendung von Lebensmitteln, werden noch nicht genug betont, auch im Global Framework nicht. Wir werden den negativen Trend bei der biologischen Vielfalt jedoch nicht umkehren können, wenn wir keine Lösung für diese Probleme finden, denn sie sind die Hauptfaktoren für die Ausdehnung der – industriellen – Landwirtschaft und den Verlust von Wäldern und biologischer Vielfalt. Das Gute ist: Jeder kann durch achtsame Konsumgewohnheiten und eine Umstellung auf gesunde und nachhaltige Ernährung einen Beitrag leisten.

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