Interview mit Kusum Kali Pal

„Die wirtschaftlichen Beweise sind erdrückend“

Kusum Kali Pal, Leiterin für Frauengesundheit beim Weltwirtschaftsforum (WEF), erklärt im Interview mit Friederike Bauer, warum es wirtschaftlich sinnvoll ist, in die Gesundheit und das Wohlbefinden von Frauen zu investieren.

Portrait von Kusum Kali Pal
Kusum Kali Pal ist Leiterin der „Global Alliance for Women's Health“ beim Weltwirtschaftsforum. Die gebürtige Inderin und ausgebildete Wirtschaftswissenschaftlerin hat ihre Karriere bei NGOs und der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) begonnen, bevor sie vor fünf Jahren zum WEF in Genf wechselte.

Was genau umfasst Frauengesundheit?

Das Thema umfasst mehr als nur die reproduktive Gesundheit, auch wenn das oft der Ausgangspunkt ist. Es geht um das ganze Spektrum des körperlichen und geistigen Wohlbefindens von Frauen über die Dauer ihres gesamten Lebens. Manche Krankheiten betreffen Männer und Frauen, andere nur Frauen, einschließlich schwangerschaftsbedingter und gynäkologischer Erkrankungen. Dann wieder gibt es Krankheiten, die bei Frauen unverhältnismäßig stark auftreten, wie z. B. Kopfschmerzen, Autoimmunerkrankungen und Depressionen. Andere – z. B. Vorhofflimmern, Darmkrebs usw. – betreffen Frauen anders als Männer. Es ist entscheidend, diese Unterschiede zu verstehen, um Lücken in Forschung und Gesundheitsversorgung zu schließen. Kurz gesagt, die Gesundheit von Frauen ist umfassender und komplexer als allgemein angenommen und erfordert eine bedarfsgerechte Pflege und Behandlung.

Warum wurde die Gesundheit von Frauen so lange vernachlässigt?

Das hat sowohl historische als auch strukturelle Gründe. Viele Jahre wurden Frauen von klinischen Studien ausgeschlossen, insbesondere Frauen im gebärfähigen Alter, was bedeutete, dass sich die medizinische Forschung hauptsächlich auf die männliche Physiologie konzentrierte. Dies legte den Grundstein für ein Gesundheitsmodell, bei dem die Bedürfnisse von Frauen nicht vollständig verstanden oder priorisiert wurden. Sie wurden oft als „kleinere Männer“ behandelt, ohne die kritischen biologischen Unterschiede ausreichend zu berücksichtigen. Darüber hinaus waren die Gesundheitsbedingungen von Frauen zu wenig erforscht und unterfinanziert, insbesondere in Entwicklungsländern. In einer kürzlichen Studie des World Economic Forum und des McKinsey Health Institute wurde festgestellt, dass das prämenstruelle Syndrom, die Wechseljahre, Probleme mit der Müttergesundheit, Gebärmutterhalskrebs und Endometriose eine Gesundheitslücke von 14 % in Bezug auf vorzeitigen Tod und Jahre mit Krankheit oder Behinderung reißen. Trotzdem erhalten genau diese Krankheitsphänomene weniger als 1 % der Forschungsmittel. Auch erkennt die medizinische Branche die langfristigen Vorteile von Investitionen in die Gesundheit von Frauen erst allmählich. Infolgedessen leiden viele Frauen unter nicht diagnostizierten, unbehandelten oder schlecht behandelten gesundheitlichen Belastungen, einfach weil sie in Forschung, Politik und Praxis übersehen wurden.

Was könnte getan werden, damit die Gesundheit von Frauen die Priorität erhält, die sie verdient?

Der erste Schritt besteht in der Erkenntnis, dass Frauengesundheit kein Nischenproblem ist – es ist eine globale Herausforderung mit tiefgreifenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen. Um die Prioritäten richtig zu setzen, sind mehrere Dinge erforderlich. Zunächst muss sich die Datenerhebung verbessern. Der Mangel an disaggregierten Daten hat dazu geführt, dass wir das Ausmaß des Problems lange nicht vollständig verstanden haben. So geben zum Beispiel nur 10 % der klinischen Studien für ischämische Herzerkrankungen und Migräne geschlechtsspezifische Daten an. Plattformen wie das Women’s Health Impact Tracking (WHIT), das vom World Economic Forum in Zusammenarbeit mit dem McKinsey Health Institute entwickelt wurde, sind von entscheidender Bedeutung. Denn sie weisen die Lücken bei den Daten, der Versorgung und der Wirksamkeit der Behandlungen nach. Das sind Informationen, die politische Entscheidungsträger brauchen, um Budgets zuzuweisen. Und diese Daten sind essenziell, um den wirtschaftlichen Nutzen von Investitionen in die Gesundheit von Frauen nachzuweisen.

Ärztin im Labor
Lange Zeit waren die Gesundheitsbedingungen von Frauen zu wenig erforscht und unterfinanziert.

Wie kann diese Forschungslücke geschlossen werden?

Es ist wichtig, die Forschung angemessen zu finanzieren. Es gibt hier eine große Diskrepanz bei der Finanzierung von Forschung zu den Gesundheitsbedingungen von Frauen im Vergleich zu der Krankheitslast, die sie verursachen. Darüber hinaus hilft es, die Finanzierung nach Kategorien – wie Grundlagenforschung, klinische Studien, translationale Forschung und Umsetzungsforschung – aufzuschlüsseln. Dadurch lassen sich die Bereiche identifizieren, in denen Investitionen am dringendsten sind. Es gibt auch starke regionale Unterschiede. Unsere Studie ergab zudem, dass Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen 54 % der Gesundheitslücken bei Frauen in Bezug auf vorzeitigen Tod und Krankheit oder Behinderung aufweisen. Dennoch konzentrierten sich nur 23 % der klinischen Studien auf diese Regionen. Diese Unterschiede anzugehen, ist mehr als nur eine Frage der Gleichberechtigung; es geht darum, die Gesundheitsversorgung für alle zu verbessern. Wir können uns nicht weiterhin auf Universalbehandlungen verlassen, wenn die Biologie so grundlegend verschieden ist.

Sollte das nicht auch in der Gesundheitspraxis ein Thema sein?

Ja, definitiv. Eine qualitativ hochwertige Versorgung erfordert einen koordinierten, multisektoralen Ansatz, an dem Entscheidungsträger, Gesundheitsdienstleister und Versicherungsanbieter, Pharmaunternehmen, Diagnostikunternehmen, Gemeinden und zivilgesellschaftliche Organisationen beteiligt sein müssen. Es muss sichergestellt werden, dass Frauen die Möglichkeit haben, rasch Zugang zu medizinischer Versorgung zu erhalten. Aber es geht auch darum, dass ihnen entsprechende Dienstleistungen auf respektvolle und effektive Weise zur Verfügung gestellt werden – dass sie Partner in diesem Prozess sein können.

Der Weltgesundheitstag 2025 leitet eine einjährige Kampagne zur Gesundheit von Müttern und Neugeborenen ein. Welche zentralen Maßnahmen sind erforderlich, um in diesem Bereich deutliche Fortschritte zu erzielen?

Indikatoren für die Müttergesundheit sind ein Lackmustest für die Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems. Während die Müttersterblichkeitsraten zwischen 2000 und 2024 weltweit um 34 % gesunken sind, sterben Schätzungen zufolge immer noch täglich 800 Frauen aufgrund von Schwangerschaften oder ambulanten Geburten. Um nachhaltige Fortschritte in der Müttergesundheit zu erzielen, ist ein mehrstufiger Ansatz erforderlich, der die Gesundheitssysteme stärkt, den Zugang zu hochwertiger Versorgung erweitert und die zugrunde liegenden sozialen Faktorenangeht. Dazu gehören Investitionen in qualifiziertes medizinisches Personal, die Sicherstellung des Zugangs zu wichtigen Versorgungsleistungen für Schwangere und Mütter – von der pränatalen bis zur postnatalen Versorgung – und die Nutzung von Technologie für die Früherkennung und Intervention. Ebenso wichtig ist die Förderung öffentlich-privater Partnerschaften, um vor allem in ressourcenschwachen Bereichen bewährte Lösungen und Finanzierungen bereitzustellen. 94 % der Sterbefälle von Schwangeren und Müttern treten in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen auf. Das unterstreicht noch einmal, wie dringlich eine bessere Regierungsführung und gezielte Investitionen sind.

Frau auf einer Liege im Computertomographen
Um Lücken in der Gesundheitsversorgung von Frauen schließen zu können, müssen geschlechtsspezifische Unterschiede erkannt und berücksichtigt werden.

Nutzen Investitionen in die Gesundheit von Frauen der breiteren Wirtschaft?

Investitionen in die Gesundheit von Frauen sind nicht nur moralisch und sozial geboten, sondern sie nützen auch der Wirtschaft – die ökonomischen Beweise dafür sind erdrückend. Untersuchungen des World Economic Forum und des McKinsey Health Institute zeigen, dass Frauen in ihrem Leben um durchschnittlich 25 % mehr krank sind als Männer. Das erschwert es ihnen, sich vollständig an der Gemeinschaft und am Arbeitsleben zu beteiligen, was sich wiederum auf ihre wirtschaftlichen Möglichkeiten auswirkt. Umgekehrt haben wir festgestellt, wenn Frauen ein gesünderes und hochwertigeres Leben führen und in ihre Gesundheit investieren können, wirkt sich dies auf ihre Bildung, die Beteiligung am Arbeitsleben und die Produktivität auswirkt. Darüber hinaus sind damit auch generationsübergreifende Vorteile verbunden. Alles zusammengenommen könnte bis 2040 ein Wirtschaftswachstum von mindestens 1 Billion US-Dollar pro Jahr auslösen. Das ist eine enorme wirtschaftliche Chance und wichtig für das Erreichen der SDGs.

Wie übersetzt sich das in reale wirtschaftliche Verluste?

Die Kosten für Inaktivität sind immens. Beispielsweise stirbt alle zwei Minuten eine Frau aufgrund einer Schwangerschaft oder Geburt – das sind nicht nur Statistiken, sondern reale Leben, Familien und Gemeinschaften, die stark von Verlusten betroffen sind. Die Gesundheit von Frauen steht in direktem Zusammenhang mit der Möglichkeit zu arbeiten, einen Beitrag zum Gemeinwohl zu leisten und ein erfülltes Leben zu führen. Schlechte Gesundheit führt zu höheren Gesundheitskosten, stärkerer Abwesenheit am Arbeitsplatz und verminderter Produktivität. Infolgedessen verlieren Familien Einnahmen und Unternehmen an Leistungskraft, während Individuen und Regierungen die Kosten für die Krankenversorgung zu tragen haben.

Welche Rolle spielt Ihrer Meinung nach die Privatwirtschaft bei den notwendigen Veränderungen?

Die Privatwirtschaft ist hier ein wichtiger Akteur, denn sie bringt Innovationen, Finanzmittel und Fachwissen mit ein. Von Pharmaunternehmen bis hin zu privaten Gesundheitsdienstleistern, Versicherern und Arbeitgebern – sie tragen dazu bei, den Zugang zu hochwertiger Versorgung zu erweitern, zu verbessern und Innovationen und Effizienz voranzutreiben. Öffentlich-private Partnerschaften, Kooperationen mit der Zivilgesellschaft und Partnerschaften zur Produktentwicklung haben schon viel bewirkt, angefangen bei der Verbreitung von Impfstoffen bis hin zur Verbesserung des Zugangs zu wichtigen Medizinprodukten. Zivilgesellschaftliche Organisationen fungieren oft als wichtige Brücken, die sicherstellen, dass Bemühungen ganzen Gemeinschaften nützen, gerecht und transparent sind. Aber damit diese Zusammenarbeit wirklich funktioniert, ist eine starke Führung, ein gutes Management und eine echte Rechenschaftspflicht erforderlich. Wenn sie richtig umgesetzt wird, kann die Beteiligung der Privatwirtschaft zusammen mit der Zivilgesellschaft einen entscheidenden Beitrag zur Bewältigung globaler gesundheitlicher Herausforderungen leisten und die Gesundheitsversorgung für alle wirksamer machen.

Wenn es uns gelingt, die Gesundheitslücke bei den Frauen zu schließen, was würde das für die Welt bedeuten?

Das wäre wegweisend. Es würde eine gesündere, wohlhabendere und produktivere Welt für alle bedeuten. Und es würde erhebliche wirtschaftliche Vorteile in den Industrie- und Entwicklungsländern mit sich bringen. Aber vor allem würde die Welt dadurch gerechter – eine Welt, in der sich Frauen persönlich und beruflich entfalten könnten.

Weiterführende Informationen